- Kalidasa und die klassische Kunstdichtung
- Kalidasa und die klassische KunstdichtungEtwa seit Beginn der Zeitrechnung kommt in Indien eine neue Art der Kunstdichtung (»kavya«) auf, deren wohl bekanntester Vertreter Kalidasa ist. Ihr Hauptanliegen ist die künstlerisch gewählte Form von Sprache, Ausdrucksweise, Satzbau und Metrum. Voraussetzung dafür ist eine ausgereifte theoretische Grundlage über die Gesetze der Dichtkunst und die Theorie des Schönen; dies alles wird im »Alankarashastra« (= Der Lehre von den Schmuckmitteln) gelehrt. Die Vertrautheit eines Dichters mit dieser Theorie findet in malerischen Vergleichen, Doppeldeutigkeiten, feinsinnigen Anspielungen, unendlich langen Wortzusammensetzungen und Satzbildungen sowie in der Verwendung schwieriger Versmaße und seltener Wörter ihren Ausdruck.Die frühesten erhaltenen Beispiele der Gattung des Kunstepos sind die in klassisch einfachem, jedoch sehr kunstvollem Stil gehaltenen Epen »Buddhacarita« (= Das Leben des Buddha) und »Saundaranandakavya« (= Die Dichtung von Saundarananda) des buddhistischen Dichters Ashvaghosha, der im 1. bis 2. nachchristlichen Jahrhundert lebte. Im »Buddhacarita« wird in 28 Gesängen, von denen nur 13 in Sanskrit erhalten sind, die Lebensgeschichte des Buddha, von seiner Geburt bis zu seinem Tod, in Versform dargestellt. Das »Saundaranandakavya« schildert die Legende von Nanda, der von seinem Halbbruder, dem Buddha, bekehrt wird und dem Orden beitritt, um dort himmlische Sinnenfreuden mit himmlischen Nymphen zu erleben. Erst nach harter Askese und manchen Vorhaltungen stimmt er der völligen Entsagung von allen Genüssen zu. Die Stoffe der beiden epischen Dichtungen entstammen der Buddha-Legende und sind ganz vom Geist buddhistischer Frömmigkeit getragen.Ihre Blütezeit erlebte die Kunstdichtung zwischen 350 und 550 n. Chr. Ihr berühmtester Vertreter, Kalidasa, war als Epiker, Lyriker und Dramatiker gleichermaßen hervorragend. Er wirkte wahrscheinlich um 400 n. Chr. am Hofe der Gupta-Herrscher. In seinem Epos »Kumarasambhava« (= Die Geburt des Kumara) verarbeitete er einen Stoff der hinduistischen Mythologie. Es werden die Ereignisse geschildert, die zur Geburt des Kumara, des Kriegsgottes Skanda, führten. Um einen Sohn Shivas zum Anführer im Kampf gegen den Dämon Taraka zu gewinnen, veranlassen die Götter den Liebesgott Kama, einen Pfeil auf den in Askese vertieften Shiva zu schießen. Shiva wehrt sich zwar, indem er den Körper des Liebesgottes in Asche verwandelt, entbrennt aber selbst in Liebe zu Parvati, der Tochter des Bergkönigs Himalaya, und gewinnt sie zur Frau. In Kalidasa zweitem Epos, dem »Raghuvamsha« (= Das Raghu-Geschlecht), wird die Geschichte der sagenhaften Sonnenkönige von Ayodhya, der Vorfahren und Nachkommen des Rama, mit letzterem als Mittelpunkt behandelt.Besonders beliebt sind in Indien Sammlungen lyrischer Einzelstrophen und Sinnsprüche, die Subhashitas (= gut gesprochen), die lehrhaft Religiosität, Recht und Sitte, Lebensklugheit, Politik und Liebe behandeln. Die bedeutendsten Werke dieser Gattung werden Canakya zugeschrieben. Er soll mit Kautilya, dem Verfasser des »Arthashastra« und Kanzler des Maurya-Herrschers Candragupta (gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.), identisch sein.Die späteren Kunstepen werden immer mehr von äußerer Formvollendung und höchster Künstlichkeit geprägt. Dazu gehört beispielsweise das 600 entstandene, nicht in Sanskrit, sondern in Maharashtri-Prakrit geschriebene Epos »Ravanavaha« (= Tötung des Ravana) des Dichters Bhatti. Der Stoff stammt aus dem »Ramayana« und behandelt den Brückenbau nach Lanka sowie die Tötung des Dämonenkönigs Ravana. Dieses Werk zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm nicht nur die Handlung dargestellt wird, sondern auch die Sprachlehre des Grammatikers Panini und die Regeln des »Alamkarashastra« beispielhaft illustriert werden. So enthält ein ganzer Gesang beispielsweise nur Verbformen im Perfekt. Aus dem 7. Jahrhundert stammt das Epos »Shishupalavadha« (= Tötung des Shishupala) des Dichters Magha. Der Stoff stammt aus dem »Mahabharata« und behandelt die Tötung des Cedi-Königs Shishupala durch Krishna. Die ausgefeilte Sprache machte dieses Werk in Indien besonders beliebt. In einem Gesang werden 23 verschiedene Metren benutzt. Als Musterbeispiel der Doppeldeutigkeit gilt der 16. Gesang, in dem ein Abgesandter des Shishupala in einer Botschaft je nach Wortbedeutung und Silbentrennung eine demütige Unterwerfung oder eine herausfordernde Kriegserklärung an Krishna richtet. Auch die Geschichtsschreibung wurde in epische Form gefasst. Das bedeutendste Werk dieser Art ist die »Rajatarangini« des Kalhana (12. Jahrhundert), in der die Geschichte der Könige von Kaschmir beschrieben wird.Ein Meisterwerk der lyrischen Dichtkunst ist das von Kalidasa verfasste, 111 Strophen lange Gedicht »Meghaduta« (= Der Wolkenbote). Ein dem Hofstaat des Gottes des Reichtums, Kubera, angehörender Yaksha (= übernatürliches Wesen, Diener des Gottes Kubera) wird für ein Jahr aus der Residenzstadt Alaka im Himalaya verbannt und hält sich in Ramagiri im heutigen Madhya Pradesh auf. Aus Sehnsucht nach seiner schönen Frau bittet er eine Regenwolke, die zu Beginn der Regenzeit nach Norden zieht, seiner Gattin die Versicherung seiner Liebe und seiner baldigen Rückkehr zu bringen. Er schildert der Wolke nicht nur seinen Liebeskummer und seine Gefühle, sondern beschreibt den Weg, den sie nehmen soll, indem er ihr die Naturschönheiten und prachtvollen Städte darstellt, die die Wolke sehen wird. Eine Schilderung des Himalaya und der Residenzstadt Alaka am Berg Kalila, des Hains, in dem Shiva thront, und des eigenen Hauses, in dem sich seine Gattin vor Sehnsucht verzehrt, stehen am Ende. In Indien fand dieses im Gefühlsausdruck der Liebessehnsucht, in Wortspielen und Vergleichen, in der Sprache und der Wahl des Metrums vollkommene Gedicht zahlreiche Nachahmer. Goethe und Alexander von Humboldt, die das Werk in einer englischen Übersetzung kennen lernten, bewunderten es sehr.Die frühesten bekannten Dramen sind buddhistisch und stammen von Ashvaghosha; von ihnen sind leider nur sehr wenige Fragmente erhalten. Ebenfalls aus der Zeit vor Kalidasa stammt die »Mricchakatika« (= Das Tonwägelchen) des Shudraka, das von der Liebe des verarmten Kaufmanns Carudatta zu der reichen und gebildeten Hetäre Vasantasena handelt.Auch als Dramendichter ist Kalidasa unübertroffen. Sein berühmtestes Werk ist die »Shakuntala« oder »Abhijnanashakuntala« (= Erkennungszeichen der Shakuntala), das bei den Indern als das bedeutendste Drama gilt. Den Stoff des sieben Akte umfassenden Stückes bildet eine aus dem »Mahabharata« stammende Legende. Shakuntala lebt in der Waldeinsiedelei des Asketen Kanva. Dorthin verschlägt es König Dushyanta auf einer Jagd. Er verliebt sich in Shakuntala und heiratet sie. Als er zu seiner Residenz zurückkehren muss, übergibt er Shakuntala einen Ring als Unterpfand seiner Liebe. Kurze Zeit danach kommt der Asket Durvasas in die Einsiedelei. Da er sich von Shakuntala missachtet fühlt, verflucht er sie, indem er ihr wünscht, dass der König sie vergessen möge. Shakuntala begibt sich zum König, verliert aber unterwegs den Ring, sodass dieser sie nicht wiedererkennt. Erst als ein Fischer den Ring findet und dem König bringt, erkennt dieser den Zusammenhang.Kennzeichnend für das indische Drama sind neben der großen Anzahl von Akten der Nandi (= der einleitende Segensspruch), das Vorspiel, in dem der Schauspieldirektor Einzelheiten über das Stück und den Verfasser bekannt gibt, die festgelegten Charaktertypen sowie die Verwendung verschiedener Prakrit-Sprachen neben dem Sanskrit. Sanskrit reden Männer aus hoher Kaste und Frauen, deren Bildung besonders betont werden soll, alle übrigen sprechen Prakrit-Dialekte.Als ein Grundwerk der überwiegend lehrhaften indischen Erzählliteratur gilt das »Pancatantra« (= Das Fünfbuch). Die fünf Bücher, die die Entzweiung und Gewinnung von Freunden, Krieg und Frieden, den Verlust von Erworbenem und unüberlegte Handlungsweisen zum Inhalt haben, sollen junge Prinzen durch unterhaltsame Märchen und Tierfabeln die Regeln der Regierungskunst und des menschlichen Verhaltens lehren. Dieses Werk hat unter allen indischen Dichtungen weltweit die größte Verbreitung gefunden - es sind annähernd 200 Versionen in 64 Sprachen bekannt.Dr. Siglinde DietzSivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.
Universal-Lexikon. 2012.